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Rezension: Die Woche, in der Jerome Kerviel beinahe das Weltfinanzsystem gesprengt hätte

Zur Finanzkrise 2007/08 sind bereits viele Bücher erschienen und auf mehr oder weniger Resonanz getroffen. Hugues Le Bret schildert ein Mosaiksteinchen, eine erste Erschütterung der Finanzmärkte Anfang 2008: die Affäre um den Trader Jerome Kerviel der Societe Generale. 

 

Sein Insider-Bericht wurde erst 2011 veröffentlicht, mehr als 3 Jahre später. Die Gründe dafür sind schnell benannt: er war zu dieser Zeit in der Vorstandsetage der Societe Generale tätig (Chef der Kommunikationsabteilung) und trat bei Erscheinen des Buches von seinem Posten bei Boursorama (französische Onlinebank) zurück. Außerdem wollte er laut eigenen Angaben zunächst den Ausgang des juristischen Nachspiels gegen Jerome Kerviel abwarten.  

 

 

Nicht zufällig ist auf dem Cover ein schwarzer Schwan abgebildet. Vor der Entdeckung Australiens glaubte man in der Alten Welt fest, dass Schwäne immer weiß seien. Seit dem gleichnamigen Bestseller von Nicolas Taleb steht dieses Bild stellvertretend für überraschende Ereignisse, für das unbekannte Unbekannte. Die konkrete Story des Buches ist daher sekundär, auch wenn es sehr interessant und spannend ist, wie ein Insider darüber minutiös berichtet. Wesentlicher sind die allgemeinen Fragen: wird es wieder passieren, kann man es verstehen und sich darauf vorbereiten? Und wie sollte man es "kommunizieren"?


DER BETRUG FLIEGT AUF

Das Buch erzählt den Ablauf der Ereignisse in chronologischer Reihenfolge und benennt die Akteure in der Bank, in den Aufsichtsbehörden und in der Politik. Die vier Kapital tragen die Titel:

  • Phase 1: Der Zusammenbruch
  • Phase 2: Der Orkan
  • Phase 3: Die Meute
  • Phase 4: Der Sturz

Im ersten Teil wird geschildert, wie die Trades von Jerome Kerviel auffliegen und die internen Ermittlungen versuchen, das ganze Ausmaß der Affäre zu ermitteln. Da der Quartalsbericht bevorsteht, an dem die Bank einen Verlust von 1.5 Mrd. Euro mit Subprime-Hypotheken bekannt geben will, ist der Entdeckungszeitpunkt denkbar ungünstig. Zunächst sieht es so aus, als sei über das Jahr 2007 ein Gewinn angefallen, dem ein in etwa ebenso großer Verlust in der Größenordnung von 1 Mrd. Euro im Januar 2008 gegenüber steht. Über 500000 Transaktionen im Handelsbuch des Traders müssen nachverfolgt und kontrolliert werden. Es könnte "nur" darauf hinauslaufen, dass die veröffentlichten Geschäftszahlen der Bank korrigiert werden müssen, aber letztendlich mit minimalem ökonomischen Schaden.

 

Die Überprüfungen weiten sich aber aus und führen zur Entdeckung von Scheintransaktionen und eines weit größeren Ausmaßes des Betrugs. Die eingegangenen Wertpapier-Positionen (vor allem Long-Positionen auf die Indizes DAX, Euro Stoxx und FTSE) summieren sich auf ca. 50 Mrd. Euro. Das ist das 1.5fache des Eigenkapitals der Bank und das 400fache der eigentlich erlaubten Positionsgröße am Arbeitsplatz des Traders. Der tatsächlich aufgelaufene Verlust beträgt bereits 2.8 Mrd. Euro und übersteigt damit den Gewinn aus 2007 bei weitem. Ein Bankrott von Societe Generale ist daher nicht mehr ausgeschlossen, denn jeder Prozentpunkt Indexveränderung würde weitere 0.5 Mrd. Euro Verlust bedeuten.

 

Wie konnte es dazu kommen? Offensichtlich liegt ein Teil der Erklärung darin, dass Jerome Kerviel ursprünglich aus der Abteilung kam, die die Kontrollen der Handelsabteilung durchführt und damit alle Abläufe kannte, bevor er selbst Händler wurde. Er wusste, dass die Kontrollen systematisch und nach Kategorien zusammengefasst ablaufen. Transaktionen, die (scheinbar) gecancelt werden und Salden, die das Backoffice nur einmal am Ende des Monats bewertet, öffneten Türen für kleine Verstöße, die nicht den einzelnen Händlern zugeordnet wurden. So konnten offene Positionen und Verluste immer wieder an den Checkpunkten vorbeigemogelt und verschleiert werden. Es war also nicht offensichtlich, dass die Verstöße systematisch und vom gleichen Trader begangen wurden - bis zu jenem 20.Januar 2008.

 

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, den weiteren Ablauf der internen Untersuchung ausführlich zu rekapitulieren. Wie darum gerungen wird, wer wen wann informieren muss, wie man die Positionen schließen kann, wie man einen Bankrun verhindert und Societe Generale rekapitalisieren kann. Der detaillierten Schilderung ist auf jeden Fall anzumerken, dass sie auf Notizen beruht, die der Autor bereits damals, vielleicht täglich, angefertigt hat. Und sie ist sehr spannend zu lesen, da neben den Fakten auch viel über die involvierten Persönlichkeiten und deren Umgang mit der Krise zu erfahren ist. 

 


AUFRÄUMARBEITEN

Im zweiten Teil geht es darum, wie die Affäre an die Öffentlichkeit kommt und was die Societe Generale und die handelnden Personen unternehmen, um den Schaden zu begrenzen. Zunächst fand ich das nicht so interessant, muss aber zugeben, dass ich im Zuge anderer Krisen (z.B. Volkswagen: Dieselgate) desöfteren daran zurück gedacht habe, was Le Bret hier berichtet. Der Umgang mit Journalisten, Public Relations Abteilungen, TV- und Radio-Sendern und Politikern einerseits und den eigenen Mitarbeitern, leitenden Angestellten und Managern andererseits folgt bestimmten Gesetzen, Regeln und Usancen, die nicht so bekannt sein dürften und über die wenig gesprochen wird. Le Bret liefert hier einen Blick hinter die Kulissen und das war auch der Grund, weshalb ich dieses Buch in 2016 erneut gelesen habe. Ich denke, darin liegt eine Stärke des Buches, dass es diesen Punkt nicht ausklammert. 

 

Der dritte Teil beschreibt, wie man versucht, eigenständig zu bleiben obwohl gleichzeitig Gerüchte um eine Übernahme durch BNP Paribas kursieren. Neben der Öffentlichkeit wird auch bei Investoren, Angestellten und Kunden versucht, eine bestimmte Meinung und ein bestimmtes Image von Societe Generale zu verankern. Letztendlich gelingt eine Kapitalerhöhung und damit der Befreiungsschlag.

 

Der vierte Teil des Buches beschäftigt sich mit dem Rücktritt des CEO Daniel Bouton und wie die französische Politik die Finanzkrise "managte", nachdem Lehman Brothers im Herbst 2008 Pleite gegangen war und die französischen Banken staatliche Rettungspakete in Anspruch genommen haben. Es ist nicht verwunderlich, dass der Autor eine eher kritische Sicht der Dinge hat, denn was zur Krise gesagt und geschrieben wurde, ist eben oft nur eines: polemisch. Dieses Kapitel vermittelt auch einen Eindruck, wie in Frankreich Wirtschaft und Politik verflochten sind.

 


FAZIT

 

Das Buch "Die Woche, in der Jerome Kerviel beinahe das Weltfinanzsystem gesprengt hätte" ist in erster Linie Insiderbericht und Tagebuch der Ereignisse. Es belegt einerseits, dass es hundertprozentige Sicherheit nicht geben kann, weil alle Kontrollmechanismen von Menschen erdacht werden und von diesen unter Umständen auch wieder umgangen werden können.

 

Andererseits zeigt es auf, wie betriebsblind die Kontrolleure und Manager der französischen Bank wurden, vor allem durch ihre Erfolge auf dem Derivatemarkt und das starke Wachstum der Bank. Diese Entwicklung fand aber nicht im luftleeren Raum statt, sondern in Interaktion mit dem Staat, der Politik, den Konkurrenten und den Medien und diese ständige Interaktion führte zu einem falschen Selbstvertrauen und hoher Selbstsicherheit, dass alle Risiken bekannt oder managebar wären. Daher ist der letzte Satz des Buches um so bedenkenswerter, zeigt er doch, dass der Autor nun demütiger und nachdenklicher geworden ist:

 

"Aber eines ist sicher: Das war nicht der letzte schwarze Schwan,

der uns überrascht hat."  Hugues Le Bret

 

Last but not least - wenn man Presse-Statements und Reden von Vorständen besser verstehen will und Interesse mitbringt, wie die Interaktion der Akteure abläuft, kann man das Buch mit diesem Blickwinkel lesen und wird nicht enttäuscht werden.

 


EXTRA: INTERVIEW mit HUGUES LE BRET

 

Die Rezensionen zum Buch sind überschaubar: manche kreiden dem Autor an, das er nicht ausreichend nach einer Lösung des Problems sucht und für einige ist der Ablauf der Geschichte immer noch unverständlich. Andere sind dankbar für den Blick hinter die Kulissen und empfehlen das Buch und dem schließe ich mich an. Einen guten Querschnitt der Meinungen liefern die Kurz-Rezensionen auf Amazon ab - das ist nicht immer so.

 

Sehr interessant finde ich das Interview der Wirtschaftswoche mit dem Autor, welches in 2011 geführt wurde: "Ich weiß nicht, was in Kerviels Kopf vorging", wo Le Bret vom Bruch mit der Zentrale der Societe Generale berichtet und dass er sich jetzt selbst um sein Geld kümmert.

 


Weitere Buch-Rezensionen auf Covacoro.de gibt es unter folgendem Link

 

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Kommentare: 2
  • #1

    valuetradeblog (Montag, 16 Januar 2017 11:24)

    Hi. Covacoro,

    vielen Dank fürs Teilen! Ich finde solche Erzählungen über Sachen die schiefgegangen sind immer extrem spannend - wie z.B. auch die Bücher über Long-Term Capital Management oder Enron. Ich denke sowas hilft einem mehr ein besserer Investor zu werden und Fehler zu vermeiden als das 20zigste Buch über Warren Buffett.

    Grüße
    valuetradeblog

  • #2

    Covacoro (Montag, 16 Januar 2017 19:08)

    Willkommen auf covacoro.de :-)

    Das ist auch meine Meinung.