· 

Rezension: Fraktale und Finanzen, Teil 2

Quelle: Wikimedia, CC BY-SA 3.0
Quelle: Wikimedia, CC BY-SA 3.0

Im zweiten Teil des Buchreviews von "Fraktale und Finanzen" möchte ich bestimmte Kapitel ausführlicher vorstellen und die Kernthesen aus meiner Sicht zusammenfassen.

 

Ausgewählt habe ich drei Themenkomplexe:

 

1) Die Kritik der modernen Finanztheorie und ihrer Grundannahmen

 

2) Mandelbrots Gegenvorschlag:
ein multifraktales Modell zur Beschreibung der kritischen Merkmale von Finanzmärkten: Turbulenz bzw. Volatilität, fraktale d.h. selbstähnliche Kursmuster, wilde Kursausschläge und gleichzeitig langfristige Abhängigkeiten

 

3) Zehn ketzerische Gedanken zum Finanzsektor - wie funktionieren Finanzmärkte wirklich?

 

Meine Auswahl ist natürlich subjektiv und jede Zusammenfassung birgt das Risiko, zu stark zu verkürzen und zu vereinfachen. Trotzdem hoffe ich, dass meinem Artikel die Balance zwischen Information und Wertung gelingt, so dass er dazu beiträgt, Mandelbrots Gedanken wieder stärker zu diskutieren und dass er vielleicht neugierig auf dieses Buch macht.

 

Wer den ersten Teil bisher nicht gelesen hat, sollte das zuvor unbedingt nachholen !

 


KRITIK der MODERNEN FINANZTHEORIE

 

Die wesentlichen Eckpfeiler der modernen Finanztheorie sind:

 

- die Random Walk Theorie bzw. Markteffizienzhypothese (Malkiel, Fama, French u.a.)

- die moderne Portfoliotheorie (MPT) nach Markowitz

- das Capital Asset Pricing Modell (Sharpe, Lintner u.a.)

- das Black-Scholes Modell (benannt nach den Begründern)

- Risikomanagement mit Value-at-Risk bzw. Constant Proportion Portfolio Insurance Methoden

 

Ich habe die jeweiligen Wikipedia-Artikel verlinkt für alle jene Leser, die sich noch einmal einen Überblick zu deren Inhalt verschaffen wollen bzw. denen bestimmte Punkte nicht geläufig sind.

Mandelbrot benennt in seinem Buch die folgenden Widersprüche, die die Grundannahmen dieser Modelle betreffen, die aufeinander aufbauen, und diskutiert sie in Kapitel 4 und 5:

 

  1. Annahme: Die Menschen sind rational und nur bestrebt, reich zu werden (also die für sich ökonomisch beste Entscheidung zu treffen). Oder in anderen Worten: rationale Anleger machen sich ein rationales Modell des Marktes und bewerten Informationen effektiv.

    Die Wirklichkeit: die ökonomische Verhaltensforschung belegt eindrucksvoll das Gegenteil, zum Beispiel das Verluste schwerer wiegen als Gewinnchancen, dass bekannte Preise oder Zahlenwerte zukünftige Schätzungen beeinflussen. Das Forschungsgebiet behavioral finance untersucht diese empirisch gefundenen Zusammenhänge.
  2. Annahme: Alle Anleger sind gleich. Angesichts gleicher Informationen treffen sie die gleichen Entscheidungen und ihre Erwartungen, Anlageziele und Zeithorizonte sind unwesentlich für die Beschreibung des Marktes.

    Die Wirklichkeit: Offensichtlich sind nicht alle Menschen gleich, das zeigen die zahlreichen Strategien, die Anleger an den Märkten anwenden, die sowohl diametrale Ausrichtungen haben können oder Aspekte kombinieren: von Day-Trading bis Buy-and-Hold, von wertorientiertem bis wachstumsorientierten Strategien, von Fundamentalisten bis Chartisten sowie alle Kombinationen dieser Methoden.

    Die Annahme einer homogenen Anlegerschaft und eines linearen Systems, wo der Output nur durch den Input bestimmt wird, vernachlässigt die Interaktionen und die Reflexivität des Marktes (letzterer Punkt im Sinne der Theorie von George Soros zu verstehen).
     
  3. Annahme: Kursänderungen verlaufen praktisch kontinuierlich. Sie springen nicht, das heisst man kann mit stetigen mathematischen Funktionen arbeiten und insbesondere mit der Normalverteilung. Mittelwert, Varianz und Standardabweichung der Normalverteilung wurden so wichtige Werkzeuge, um Risiko und Renditen zu berechnen und abzuschätzen.

    Die Wirklichkeit: Kurse bewegen sich in Sprüngen, zum Teil aus trivialen Gründen:  Kursnotierungen werden oft nicht in beliebig feinen Abstufungen vorgenommen, Kurse preisen neuen Informationen (Übernahmen, Gewinnwarnungen etc.) umgehend ein. Diese Diskontinuitäten sind keine Anomalien sondern Normalität. 
  4. Annahme: Kursänderungen folgen einer Brownschen (Zufalls-) Bewegung. Jede Kursänderung tritt unabhängig von der vorherigen auf, diejenigen in der Vergangenheit beeinflussen die heutigen Änderungen nicht. Zweitens sind die Änderungen statistisch gesehen unveränderlich, sprich der Vorgang, der sie bewirkt, bleibt auf Dauer unverändert und ändert nicht plötzlich seine Wirkung. Drittens folgen sie einer Normalverteilung, sind also meist klein und selten groß, in vorhersagbarer Häufigkeit.

    Die Wirklichkeit: Dieser Annahme widersprechen die Fakten am eindeutigsten. Die immer wieder zu beobachtenden Trends und der sogenannte Momentum-Effekt widersprechen klar der Annahme von der Unabhängigkeit der Kurse. Während die Normalverteilung erwarten ließe, dass 68% aller Kursänderungen innerhalb von +/- 1 Sigma (als einer Standardabweichung um den Mittelwert) vorliegen und 98% innerhalb von +/- 3 Sigma, zeigen reale Daten viele Änderungen größer 5 Sigma. In der Sprache der Statistiker sind dies breite Ausläufer bzw. Ausreißer. Last but not least kann man beobachten, das große Kursänderungen "clustern", das heißt in bestimmten Zeiträumen stark gehäuft auftreten.

Trotz dieser Faktenlage sind die auf der Normalverteilung basierenden Modelle etabliert,  werden extensiv genutzt und aufgrund der beobachteten "Anomalien" weiter mit Reparaturen und Ergänzungen versehen. Als zum Beispiel das CAPM erstmals angegriffen wurde, entwarf man umgehend ein breiter gefaßtes Modell namens APT (Arbitrage Pricing Theory). Es wurden zusätzliche Parameter eingeführt, um die Aussagen des Modells mit den entgegen gehaltenen Marktdaten besser in Einklang bringen zu können.

 


MANDELBROTS GEGENVORSCHLAG

 

Mit den Paradigmen der "modernen" Theorie - das ist die Überzeugung Mandelbrots - gilt es zu brechen. Die wesentlichen Eigenschaften der Finanzmärkte sind gerade die Phänomene, die bisher als Anomalien bezeichnet werden: einerseits die Sprunghaftigkeit bzw. Turbulenz der Märkte, andererseits die fraktale Natur der Kursänderungen. Unter einem Fraktal versteht man dabei vereinfacht gesprochen ein Muster oder eine Form, deren Teile ein Echo des Ganzen sind.

 

Jeder versteht diese Definition beim Blick auf einen Farn oder die Verzweigung der Bronchien einer Lunge. Das sie auch komplizierteren Strukturen und ökonomischen Prozessen zugrunde liegen, diesen Beweis will der Autor in den Folgekapiteln führen. Im Buch wird dazu im Kapitel 7 mit dem Untertitel "Ein fraktaler Grundkurs" zunächst eine sehr anschauliche Einführung in die fraktale Geometrie gegeben, die auch für absolute Laien sehr gut verständlich und lesbar ist.

 

Im Kapitel 8 zeigt Mandelbrot, wie er bei der Untersuchung von Baumwollpreisen erstmals auf Potenzfunktionen und Fraktale stößt und erneut beim Phänomen der Nilfluten. Wesentlich ist sicher die Erkenntnis, dass die Kursänderungen eben nicht normalverteilt sind und das die Kurscharts eine fraktale Natur zeigen, wenn man die Zeitskalen variiert. Diese letztere Eigenschaft bezeichnet man in der Mathematik als Selbstähnlichkeit bzw. als Skaleninvarianz. Ein fraktales Marktmodell benötigt nun nur wenige Parameter, um Simulationen des Kursverlaufs zu ermöglichen. Untersucht man die Größe und Häufigkeit der Kursänderungen stellt man fest, dass sie der Realität nahe kommen und simulierte Charts nicht von realen Charts unterschieden werden können. Die Probleme der Standard-Theorien mit 5- oder 6-Sigma-Events oder Momentum-Phasen treten nicht auf.

 

Das bedeutet auch, dass fraktale Bildungsregeln ausreichend sind, um scheinbar chaotische bzw. zufällig wirkende komplexe Muster und Oberflächen zu erzeugen. Dazu gehören an den Finanzmärkten scheinbare Trends und ihr plötzliches Ende, weiterhin Blasen, Crashs und Phasen hoher und niedriger Volatilität. Mandelbrot führt in Kapitel 10 den Noah- und Joseph-Effekt ein, um sowohl die wilden Kurs-Ausschläge als auch die langfristige Abhängigkeit der Märkte bildhaft zu beschreiben. Und er zeigt auf, dass man durch stochastische Variation des Maßstabes - man könnte auch sagen durch Dehnung oder Stauchung der Zeitskalen - sogenannte Multifraktale erhält. Sie haben ihre Entsprechung in den ruhigen und dynamischen Phasen an den Börsen, die jeder Anleger aus der Praxis kennt und nachvollziehen kann. Leider habe ich im Internet keines der sehr guten Beispiele gefunden, die im Buch abgebildet sind - zu Aktienkursen, Rohstoffpreisen oder Indexkursen. Daher kann ich an dieser Stelle leider kein Panorama der finanziellen Multifraktale publizieren.

 

Stattdessen füge ich als illustratives Beispiel für die Mächtigkeit der Methode ein Beispiel an, das die fraktale Generation von 3D-Landschaften zeigt. Die generierten sehenswerten Bilder (Link) sind von echten Naturaufnahmen nicht mehr zu unterscheiden und wenn man ihre Rauhigkeit, Details, Struktur usw. quantifizieren würde, wären auch diese unbestechlichen Zahlen sehr nah an solchen von realen Landschaften. Das wird dadurch erreicht, dass man die Bildungsregeln stochastisch variiert, statt sie konstant zu lassen, eben genau das, was Mandelbrot als Multifraktal bezeichnet hat.

 

Einen beliebigen Kursverlauf kann man sich nun als 2D-Version bzw. Querschnitt durch eine mit dieser Methode erzeugte Berglandschaft vorstellen.  Die fraktale Geometrie ist im Detail natürlich komplexer, als ich es hier darstellen kann. Aber die Grundzüge kann ein interessierter Laie verstehen und zum Beispiel mit dem Artikel auf Wikipedia sowie den sehr schönen Beispielen unter diesem Link vertiefen. Mittels der fraktalen Geometrie kann man also sich wiederholende Muster aufspüren, analysieren und quantifizieren, sie ist Werkzeug der Analyse und der Synthese zugleich. Genau das zeichnet nach Mandelbrots Meinung ein nützliches Modell aus.

 


DIE KERNTHESEN ODER 10 Ketzerische GEDANKEN

 

Mandelbrot leitet aus seiner mathematischen Beschreibung der Märkte im Kapitel 12 zehn Kernthesen ab, die er als ketzerische Gedanken zum Finanzsektor überschreibt. In der Konsequenz erfordert ihre Beachtung einen neuen, viel kritischeren Umgang mit Risiko und geänderte Vorgehensweisen bei zentralen Problemen der Geldanlage wie der Portfolio-Konstruktion oder der Analyse von Geldanlagen und Preisen.

 

Hier sind die 10 Kernthesen:

  • Märkte sind turbulent.
  • Märkte sind sehr, sehr riskant - riskanter als die Standardtheorien sich vorstellen.
  • Auf dem Markt spielt der "richtige Zeitpunkt" eine bedeutende Rolle. Große Gewinne und Verluste konzentrieren sich innerhalb schmaler Zeitpakete.
  • Oft springen Kurse, anstatt zu gleiten. Das erhöht das Risiko.
  • Auf Märkten ist die Zeit dehnbar.
  • An allen Orten und zu allen Zeiten funktionieren die Märkte gleich.
  • Märkte sind von Natur aus unsicher und Kursblasen sind unvermeidlich.
  • Märkte sind trügerisch.
  • Es ist vielleicht gefährlich, Kurse vorherzusagen, aber die Chancen für künftige Volatilität lassen sich recht gut abschätzen.
  • Auf den Finanzmärkten hat die Vorstellung eines "Wertes" nur begrenzten Wert.

Damit komme ich zum Fazit und Schluß dieses ausführlichen Reviews. Fraktale und Finanzen ist ein lesenswertes und inspirierendes Buch, das den Horizont jedes Investors erweitert und mit seiner klaren Sprache und den gelungenen Illustrationen durchaus begeistern kann.

 

Es räumt mit einigen Mythen zur Funktionsweise der Märkte auf und führt einem das inhärente Risiko plastisch vor Augen. Und dieses Risiko ist höher, als es mit Beta, Standardabweichung, Varianz und Korrelationskoeffizienten je ausgedrückt werden kann.

 

Gleichzeitig ist das Buch aber auch Ansporn, sich aktiv mit den Märkten auseinander zu setzen und dem Risiko- und Moneymanagement Aufmerksamkeit zu schenken, statt einfach der Herde nachzulaufen und sich dem Markt vollkommen auszuliefern.

 

Zum Schluß möchte ich auf die zwei sehr guten Artikel verweisen, die im Nachgang zur Veröffentlichung des Buches erschienen sind und das unten eingebettete Video nachdrücklich empfehlen !

 

"How the finance gurus get risk all wrong"  B. Mandelbrot / N. Taleb

"How fractals can explain what's wrong with Wall Street" B. Mandelbrot

 

Covacoro


EXTRA: TEDx VIDEO mit Michael FRAME

 

Michael Frame hat lange Zeit mit Benoit Mandelbrot in Yale zusammengearbeitet und sein TED-Vortrag beginnt natürlich mit Fraktalen. Der mit "Stories about Nature" übertitelte Beitrag nimmt aber eine überraschende Wendung, wenn Mike über seine letzten Gespräche mit Mandelbrot reflektiert. Unbedingt anschauen !

 


Weitere Buch-Rezensionen auf Covacoro.de:  Link

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Covacoro (Sonntag, 04 September 2016 17:01)

    Ein sehr guter ergänzender Artikel mit dem Titel "Herdentrieb und Panik statt Angebot und Nachfrage" erschien bereits 2008 auf NZZ.ch:
    http://www.nzz.ch/herdentrieb-und-panikreaktionen-statt-angebot-und-nachfrage-1.1346786