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Zwei gegensätzliche Trends

 

Nein, es geht nicht um technische Analyse und die Glaskugel, wo die Kurse zum Jahresende 2018 stehen, bleibt auch in der Schublade.

 

Worüber ich heute schreiben möchte, betrifft uns alle: Es geht darum, wie sich die Börsen als Kapitalsammelstelle derzeit entwickeln.

 

 

In den vergangenen Quartalen sind zwei gegensätzliche Trends zu beobachten: So steigt einerseits die Marktkapitalisierung weltweit weiter an und vor allem in die einschlägigen Indizes und den darin enthaltenen großen Werten fließt immer mehr Geld.

 

Andererseits nimmt die Zahl der notierten Aktien ab und trotz des bis vor kurzem freundlichen Umfeldes, gibt es keinen Boom bei Neuemissionen. Gerade in den USA beobachtet man zusätzlich ein sehr hohes Volumen an Aktienrückkäufen. Das heißt, Unternehmen kaufen eigene Aktien zurück und ziehen diese ein.

 

Müssen die Lehrbücher bald umgeschrieben werden, die Börsen als wichtigen Zugang zur Eigenkapitalbeschaffung betrachten? Was heißt das möglicherweise langfristig für Anleger, die ihre Altersvorsorge darauf aufbauen?

 

 


DIE TRENDS BESICHTIGEN

 

Zwei Institutionen sind sehr hilfreich bei der Besichtigung der Trends weltweit. Einerseits die Weltbank, die unter www.worldbank.org zahlreiche Analysen und Studien veröffentlicht und sich dabei auch mit den Finanzmärkten beschäftigt.

 

Andererseits gibt es die World Federation of Exchanges (WFE), die unter www.world-exchanges.org erreichbar ist. Wenn man sich dort registriert, erhält man Zugriff auf Statistiken wie IPOs (neue Börsengänge), monatliche Trends bei notierten Werten und gehandeltem Volumen (Aktien, ETF, Derivate, Futures etc.). Halbjährlich wird auch ein Highlight-Report veröffentlicht, der ohne Registrierung zugänglich ist.

 

Die wesentlichen Kennzahlen für das 1.Halbjahr 2018 lesen sich dann so:

  • Die globale Marktkapitalisierung stieg um 9.1% im Vergleich zu H1 2017 und fiel um 1.6% im Vergleich zu Ende H2 2017.
  • Der Wert und das Volumen des Handels mit Aktien stieg um 24.6% bzw. 14.1% im Vergleich zum Vorjahreshalbjahr (H1 2017).
  • Die Anzahl der IPOs fiel um 9.9% im Vergleich zu H1 2017.
  • Das an den Börsen gehandelte Derivate-Volumen stieg um 17.4% im Vergleich zum Vorjahreshalbjahr (H1 2017), getrieben durch einen Volumenanstieg über alle Assetklassen außer Commodity Futures (Rohstoffe).
  • Gelistete ETFs (Exchange Traded Funds) wuchsen um 9.1% im H1 2018 getrieben von Zuwächsen in allen Regionen.

Quelle: H1 2018 Highlight Report, World Federation of Exchanges, Link

 

Nun ist natürlich die Frage, wie sich diese Zahlen in den langjährigen Kontext einordnen, dazu vier Charts von der Weltbank, die auf Datenmaterial der WFE beruhen.

 

 

Wie wir sehen können, ist die Marktkapitalisierung der Weltbörsen seit 1980 deutlich angestiegen. Insofern war das 1. Halbjahr 2018 also nichts besonderes. Der Börsencrash um die Jahrtausendwende (Dot.com Bubble) und die Finanzkrise 2008 haben nur kurz Spuren im Aufwärtstrend hinterlassen. Die USA spielen eine dominierende Rolle: knapp 32 der 80 Trillionen US$ Welt-Börsenkapitalisierung stecken in amerikanischen Werten.

 

Doch es gibt ein Land, das seit 2003 eine rasante Entwicklung verzeichnet: China. Noch ist sein Kapitalmarkt nicht einmal 1/3 so gross wie der US-amerikanische. Während aber in USA der Wert der Aktien bereits 160% des GDP (Bruttosozialprodukt) beträgt, sind es in China nur 70% des GDP. 

 

Und wie sieht der langfristige Trend bei der Anzahl der gelisteten Unternehmen aus?

 

Die USA verzeichnen seit 1995 einen deutlichen Rückgang, zuletzt hat sich diese Tendenz etwas verlangsamt. Ganz anders China, wo parallel zum Anstieg des GDP sich auch die Anzahl der gelisteten Unternehmen binnen zehn Jahren in etwa verzehnfacht hat.

 

Das wirtschaftlich stärkste Land Europas, Deutschland, habe ich der Vollständigkeit halber in den Charts mit eingeblendet. Ein Kommentar erübrigt sich: die Musik spielt woanders und zwar sowohl was Marktkapitalisierung, Anzahl gelisteter Unternehmen als auch GDP angeht.

Generell können wir festhalten, dass die im Report für das 1.Halbjahr beobachtbaren Trends schon länger anhalten und vor allem in den entwickelten Märkten zu beobachten sind.

 

 


WO IST DAS PROBLEM?

 

Da sich die Marktkapitalisierung berechnet durch Multiplikation von Anzahl der Aktien mal deren Kurs, fehlt uns nun noch ein Puzzleteil zum Verständnis. Wir wissen nicht, wieviele Aktien im Jahresvergleich verfügbar waren. Mittels Kapitalerhöhung könnte die Anzahl jederzeit steigen, mittels Rückkauf und Einzug der Aktien, jederzeit fallen.

 

Daten hierzu finden wir sehr leicht für die USA. Dort erreicht das Volumen der Rückkäufe (Buy backs) von Aktien durch Unternehmen in 2018 den Betrag von 200 Mrd US$ im Quartal - ein neuer Rekord. So titelte die FAZ im September "So viele Aktienrückkäufe wie noch nie" und die FuW aus der Schweiz sieht darin eine wichtige Stütze der bisherigen Hausse "Aktienrückkäufe in den USA auf Rekordhoch".

 

Wenn also sowohl die Anzahl der gelisteten Unternehmen tendenziell sinkt, als auch die Anzahl der Aktien von noch gelisteten Unternehmen, dann reduziert sich in Summe das Angebot. Als Ausgleichsventil bleibt nur der Preis. Daher ist es nicht weit hergeholt, eine Knappheitsprämie in den Kursen und Bewertungen vor allem amerikanischer Einzelwerte zu vermuten.

 

Es ist dabei einerlei, wo die Ursachen oder die Motive für Rückkäufe und Delistings liegen und das rechnerisch ein Rückkauf den Gewinn pro Aktie steigen läßt. Es ist einfach so, dass Anleger, die nicht aus dem Handel Gewinne schöpfen, sondern in ihre Altersvorsorge investieren, im Sinne des Marktes eher Halter von Aktien sind.

 

Diese "Buy & Hold" Anleger (neben Privaten auch institutionelle Adressen wie Pensionsfonds, Stiftungen oder die Staatsfonds aus Norwegen, Singapur oder China) wollen ihre relativ stetigen Geldzuflüsse bzw. Ersparnisse regelmäßig in Aktien investieren. Dazu sollte das verfügbare Angebot mit der Wirtschaft mitwachsen, damit man adequat partizipieren kann. Eine Verknappung würde das Risiko einer Blasenbildung erhöhen und eher unerwünscht sein.

 

Daher schauen wir genauer hin:

 

Das Chart von Goldman Sachs zeigt deutlich, dass auch das Volumen der Aktienrückkäufe zyklisch ist und beispielsweise während der Finanzkrise 2008 einbrach. Die Unternehmen agieren prozyklisch und die neuen Rekordwerte 2018 wurden vermutlich durch die Steuer-Reform der Trump-Administration befeuert. 

 

Wichtiger für unsere Fragestellung, ob die Rückkäufe problematisch sind, ist aber der Blog-Beitrag von Fisher Investments "A Closer Look at 2018 US Buybacks". Hier kommt es auf die orange Linie im 2.Chart an: Diese zeigt den Buyback Value in US$ als prozentualen Anteil an der Marktkapitalisierung in Basispunkten. 80 Basispunkte stehen für 0.8% rückgekauftes Marktvolumen pro Quartal - und um diese Zahl schwanken die Daten seit etwa 2005.

 

Damit wird die Bedeutung und Größe der Buybacks ins rechte Licht gerückt: Sie sind ein kleiner Faktor, der die Kurse nicht nach oben drücken kann. Ihre Bedeutung wird also in den meisten Internet-Artikeln zu stark dramatisiert.

 

Wir müssen uns nicht sorgen, dass bald alle Aktien knapp werden und wir wissen außerdem, dass schon die nächste Kurskorrektur oder Rezession die Rückkäufe der Unternehmen wieder deutlich reduzieren wird.

 

Und was ist mit der abnehmenden Anzahl notierter Aktien in den großen Industrieländern? Hier hat sich das Institut der deutschen Wirtschaft bereits 2017 zu Wort gemeldet und die IPO-Rate (neue Börsengänge) zur Delist-Rate (also Börsenabgänge) verglichen. Der Befund deckt sich dabei für USA, UK und Deutschland mit dem bereits gezeigten Resultat der Weltbank, wie die folgenden Charts zeigen:

 

Als Ursachen benennen die Autoren der Studie:

  1. Durch eine gute Verfügbarkeit von anderen Finanzierungsquellen – wie Private-Equity-Gesellschaften – stehen den Unternehmen Alternativen zum Börsengang zur Verfügung, die weniger reguliert sind und bei denen geringere Kosten anfallen als bei einer Börsennotiz.
  2. Typische Aktieninvestoren wie Banken und Versicherungen haben sich nach der Finanzkrise von den Börsen zurückgezogen, sodass deren Anlagekapital für Börsengänge von jungen und schnell wachsenden Unternehmen fehlt.

Das klingt nachvollziehbar, ist aber nicht in Stein gemeißelt. Auch hier kann man vermuten, dass ein wirtschaftlicher Abschwung die Rahmenbedingungen wieder so ändern kann, dass die Börse als Quelle der Eigenkapitalbeschaffung wiederentdeckt wird. Der Haken ist nur, dass dann sicher auch die Kurse der Aktien am Boden sein werden, was die Unternehmen eher abschrecken würde. Insofern darf man gespannt sein, wie die Geschichte ausgeht.

 

Die Autoren der IW-Studie schlussfolgern am Ende: "Erleichterungen für Börsengänge und damit eine Umkehr des Trends zu immer weniger an der Börse gelisteten Unternehmen sind nicht nur für die Unternehmensfinanzierung relevant, sondern auch für die privaten Anlageentscheidungen zur Altersvorsorge." Dem ist nichts hinzuzufügen.

 

 


FAZIT

 

Der gegenläufige Trend von steigender Marktkapitalisierung bei gleichzeitig weniger gelisteten Unternehmen gilt nur für die sogenannten Industrieländer, wie z.B. USA, UK und Deutschland. Es ist somit wenig überraschend, wenn sich immer mehr Geld in den bereits hoch kapitalisierten Werten bündelt.

 

Die hohen Volumina der Aktienrückkäufe in den USA sind relativ zur Marktkapitalisierung des Landes nicht das gravierende Problem, wie vielfach dargestellt. Die Unternehmen gehen hier opportunistisch und prozyklisch vor. Folgt man der Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft, weichen die Unternehmen momentan auf Finanzierungsquellen neben der Börse aus. Diese sind leicht verfügbar, kostengünstig und weniger reguliert. Problematisch könnte sein, dass eine spätere Rückkehr an die Börse zwecks Eigenkapitalbeschaffung in eine wirtschaftlich schwierigere Phase fallen könnte, inklusive Rezession und Kursabschwung.

 

Insbesondere China, aber auch andere Entwicklungsländer, werden einen immer größeren Teil der Welt-Aktienmarktkapitalisierung ausmachen und die Anzahl gelisteter Unternehmen wächst hier noch. Für den langfristig denkenden Altersvorsorge-Sparer sollte es daher sinnvoll sein, einen höheren Anteil in Emerging Markets zu investieren, statt die Knappheitsprämie für vermeintlich sichere US-Aktien und hohe fundamentale Bewertungen zu bezahlen.

 

 

(c) 2018 Covacoro

 


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Kommentare: 4
  • #1

    Thorsten (Freitag, 23 November 2018 10:35)

    Sehr coole und fundierte Analyse der aktuellen Situation mit Aktienverfügbarkeit, Rückkäufen, etc - vielen Dank dafür!

    "Für den langfristig denkenden Altersvorsorge-Sparer sollte es daher sinnvoll sein, einen höheren Anteil in Emerging Markets zu investieren, statt die Knappheitsprämie für vermeintlich sichere US-Aktien und hohe fundamentale Bewertungen zu bezahlen."

    Bei Deiner Zusammenfassung in diesem letzten Satz, ist mir aufgefallen, dass man zu dieser Entscheidung auch (einfach) gelangt, wenn man einen klassischen Rebalancing-Ansatz im ETF Depot verfolgt, da über die letzten Jahre die entwickelten Märkte deutlich besser gelaufen sind.

    In meinem Depot sehe ich das schon über die letzten 3-4 (?) Jahre. Ich kaufe deutlich mehr Emerging Markets Anteile, um meine Soll-% zu erreichen...

    Von daher auch vielen Dank für die fundierte mentale Unterstützung, diese Regel weiter zu befolgen :-)

  • #2

    Prof (Freitag, 23 November 2018 19:11)

    Auch ich fand den Artikel wieder sehr gut recherchiert und grafisch gut "untermalt".

    - Es wird wieder deutlich, dass Deutschland in Bezug auf Aktien ein Entwicklungsland ist, den die Marktkapitalisierung ist im Verhältnis zum GDP extrem gering.
    - Bei den klassischen Entwicklungsländern besteht aufgrund einer eventuell unsichereren (Rechts)lage auch eher die Gefahr eines Totalverlustes.

  • #3

    Kantoke (Mittwoch, 28 November 2018 19:36)

    Was ist mit einem Spin-off? Hier erhöht sich doch auch wieder die Aktienanzahl.

  • #4

    Covacoro (Samstag, 01 Dezember 2018 17:12)

    Ja, ein Spin-Off zählt wie ein IPO in der Bilanz.